Kanadas späte Entschuldigung

Erschienen im Standard am 11. Juni 2008

Vancouver – Der 11. Juni 2008 wird als historisches Datum in die Annalen von Kanadas Indianern eingehen. An diesem Tag entschuldigt sich Premierminister Stephen Harper im Parlament in Ottawa für die Umerziehungsinternate, in denen indianische Kinder früher emotionalem, physischem und sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren. Diese sogenannten “Residential Schools”, die während vielen Generationen von mehreren Kirchen geführt und vom Staat bezahlt wurden, sind eines der schlimmsten Kapitel in Kanadas jüngerer Geschichte.

“Kanada bewältigt jetzt seine dunkle Vergangenheit, die lange vor den eigenen Bürgern vertuscht und versteckt wurde”, erklärte Phil Fontaine, der Vorsitzende der kanadischen Häuptlinge. Fontaine hatte selbst mutig bekannt, dass er einst in einer der Umerziehungsinternate sexuell missbraucht worden war. In diesen Schulen wollte man Indianerkinder, fern von Heimatdorf und Eltern, zu “nützlichen” Mitgliedern der von christlichen, weißen Siedlern dominierten Gesellschaft Kanadas machen.

Der 71-jährige Alvin Dixon, Angehöriger des Heiltsuk-Indianerstammes, reist eigens nach Ottawa, um im Parlament dabeizusein, wenn sich die kanadische Regierung entschuldigt. Dixon war zehn Jahre alt, als man ihn seinen Eltern wegnahm und für acht Jahre in solches Internat brachte. Dort wurde er geschlagen, sexuell belästigt und durfte nie seine Muttersprache sprechen. “Ich weinte viele Tage lang”, erzählt er. Dann versiegten seine Tränen für immer. “Meine Gefühle wurden abgetötet, seither kann ich nicht mehr weinen.” Dixon war eines der rund 125000 indianischen Kinder, von denen viele für ihr ganzes Leben traumatisiert wurden.

Noch immer wissen viele Kanadier nicht, was in diesen Umerziehungsschulen wirklich geschah. Die Internate wurden ab 1874 eingeführt. Im Jahr 1931 gab es rund 80 in Kanada – die letzte Schule wurde erst 1995 geschlossen.

Ein Schiff brachte den kleinen Alvin Dixon 1947 nach Port Alberni auf Vancouver Island, damals vier Reisetage von seinem Heimatdorf Bella Bella im Norden von British Columbia entfernt. Kaum angekommen, erhielt er seine ersten Prügel, weil er in der Sprache seines Stammes redete, die einzige Sprache, die er kannte. Den Kindern war nur erlaubt, Englisch zu sprechen. Morgens mussten sie harte Arbeit leisten, nachmittags gingen sie zur Schule. Alvin Dixon melkte Kühe, “aber wir erhielten nie frische Milch und auch kein Fleisch.”

Er durfte im Sommer seine Eltern besuchen, aber viele Kinder mussten Jahr für Jahr in der Schule bleiben, ohne Kontakt zu ihren Familien. In diesen übervölkerten und schlecht ausgerüsteten Institutionen brachen oft tödliche Seuchen aus. Experten schätzen die Sterblichkeitsrate unter den indianischen Schülern Anfang des 20. Jahrhunderts auf bis zu 50 Prozent. Sexueller Missbrauch war in den von Nonnen und Priestern geführten Schulen an der Tagesordnung. Im Internat von Port Alberni verbreitete ein später verurteilter Sexualtäter namens Arthur Henry Plint als Aufseher Angst und Schrecken in den Schlafräumen. Plint wollte auch ihn zu oralem Sex zwingen, erzählt Dixon, “aber ich war damals bereits zwölf Jahre alt und wehrte mich.” Kleinere Kinder – manche wurden schon im Alter von vier Jahren den Eltern weggenommen – konnten sich vor solchen Kriminellen nicht schützen.

Erst vor wenigen Jahren wagten Mitglieder der First Nations – wie die Indianer in Kanada genannt werden -, die Schulen und ihre Betreiber einzuklagen. Elf Sexualtäter wurden bislang überführt. Schließlich einigten sich die kanadische Regierung, die Kirchen und die First Nations im Jahr 2006 auf eine Abfindung von umgerechnet 1,3 Milliarden Euro an rund 90000 ehemalige Schüler. Teil dieses Abkommens ist auch die Einsetzung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission nach dem Vorbild Südafrikas. Sie wird während fünf Jahren den Opfern und allen Betroffenen ein Forum bieten, damit sie ihre Leidensgeschichten erzählen können.

“Die kanadische Öffentlichkeit muss wissen, was ihre Vorfahren uns angetan haben”, sagt Alvin Dixon, der sein Leben lang unter den Folgen der Zwangsumerziehung gelitten hat: “Ich dachte, meine Eltern hätten mich verlassen und wollten mich nicht mehr.” Beruflich war er zwar erfolgreich, studierte an der Universität und wurde Lehrer. Er konnte aber keine Liebe weitergeben, fühlte nur Wut. “Ich war ein emotionaler Terrorist gegenüber Frau und Kindern”, sagt der zweimal Geschiedene.

Viele Probleme der Indianer stammen laut Experten aus diesem Trauma: Sucht, Kriminalität, Verwahrlosung, Depression, Angst, Selbstmordgefahr und psychische Krankheiten. Alvin Dixon hofft, dass die Entschuldigung der Regierung der erste Schritt ist, vergangenes Unrecht gutzumachen. “Sie wird bestätigen, dass die Schulen falsch waren und nicht meine Eltern”, sagt er.