Auszug aus dem Buch „Nutze deine Feinde“ von Bernadette Calonego (Copyright Berlin Verlag Bloomsbury Berlin)
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Prolog
Die Straßenbahn kam so abrupt zum Stehen, dass Josefa Rehmer zunächst gegen die Stange des Sitzes vor ihr prallte, dann wieder zurückfiel und auf die Seite kippte. Die Warnglocke der Straßenbahn schrillte. Während Josefa vergeblich versuchte, sich irgendwo festzuhalten, traf ihre linke Schläfe auf etwas Hartes unter rauem Stoff. Sie lag nun seitlich gegen einen menschlichen Körper gelehnt, der wie ein Turner anden Ringen hin und herbaumelte. In ihrer linken Schläfe pochte ein stechender Schmerz. Der Turner, der sich an die Halteschlaufen geklammert hatte, richtete sich auf und zog den schwarzen Anzug zurecht, den er unter einem offenen Lammfellmantel trug. Josefa spürte seinen Blick auf sich ruhen. Doch als sie ihm ein entschuldigendes Lächeln zuwarf, schaute er rasch zur Seite. Dem jungen Mann war die ungewollte Tuchfühlung offensichtlich genauso peinlich wie ihr.
Der Leitwagen der Straßenbahn stand quer auf Zürichs Bahnhofstraße. Er war gerade von der Haltestelle weggefahren und hatte an Tempo gewonnen, als ihn ein Hindernis unvermittelt zu einem scharfen Bremsmanöver zwang. Nun öffneten sich die automatischen Türen, und die Passagiere drängten benommen nach draußen. Auch Josefa packte ihre heruntergefallene Aktentasche und trat auf den Gehsteig.
Die eisige Januarluft schnitt ihr ins Gesicht. Auf der anderen Straßenseite hatten sich bereits etliche Schaulustige versammelt. In einer Phalanx kreisten sie ein rotes Mercedes-Coupé ein, dessen Kotflügel zersplittert war wie ein eingedrücktes Osterei. Ein modisch gekleideter Mann stand daneben, die Hände hilflos in die Hüften gestemmt.
Doch Josefa hatte keine Zeit zu verlieren. Ungeduldig bahnte sie sich einen Weg durch den Menschenauflauf. Jetzt spürte sie auch in ihrem Brustbein ein Pochen. Das musste die Stange des Vordersitzes gewesen sein. Ihre Schläfe fühlte sich feucht an. Sie fuhr prüfend mit dem Finger darüber: Ein roter Film blieb an ihm haften. Im Laufen holte sie einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche, klappte ihn auf, blieb kurz stehen und hielt ihn schräg nach oben. Nichts. Sie musste das Blut gleich mit dem Finger weggetupft haben.
Aber da war etwas im Hintergrund. Vor einem Schaufenster, nur ein paar Schritte von ihr entfernt, stand der Mann im Lammfellmantel. Sie spürte wieder den pochenden Schmerz. Der Typ musste etwas verdammt Hartes in seiner Brusttasche tragen. Josefa verstaute eilig den Spiegel und lief weiter.
Sie war unter Zeitdruck. Die Straßenbahn war bereits zu spät eingefahren, völlig unüblich für die legendäre Zürcher Pünktlichkeit. Wenn sie sich beeilte, konnte es Josefa zum Paradeplatz in wenigen Minuten schaffen. Doch nach diesem Zwischenfall würde sie verschwitzt und aufgelöst ankommen – trotz der Kälte.
Die Bahnhofstraße erschien ihr plötzlich unendlich lang, mit viel zu vielen Passanten vor den Toren der Bankpaläste und den vornehmen Geschäften. Auf dem Paradeplatz hatte sich ein Alphornbläser aufgestellt, ein uriger Typ mit Vollbart und einem edelweißbekränzten grünen Filzhut. Im Vorbeihasten konnte Josefa nur zwei Wörter der Botschaft entziffern, die er auf einen Karton gepinselt hatte: »Stille« un»besinnen«. Das Alphorn übertönte das Kreischen der Straßenbahnenund den rauschenden Autoverkehr in den umliegendenStraßen. Ein Radfahrer, der die Schienen überqueren wollte, rutschte aus und stürzte. Was für ein verrückter Tag! Josefa warf eilig einen Blick zurück, um festzustellen, ob der Radler verletzt war. Da sah sie den Mann im Lammfellmantel hinter einem Pfeiler beim Eingang einer Privatbank verschwinden.
Endlich angekommen. Bevor sie das Hotel betrat, tupfte sie sich sicherheitshalber mit einem Taschentuch die Schläfen ab. Blassrote Streifen verfärbten das Papier. An der Mauer des Kaufladens gegenüber klebte ein Plakat, das alle Schweizer Soldaten zur jährlichen obligatorischen Schusswaffenübung aufrief.
Josefa schob sich durch die Drehtür in die elegante Hotelhalle, die mit blau-goldenen Teppichen ausgelegt war. Der Concierge telefonierte gerade und musterte sie beiläufig. Josefa sah nervös auf ihre Uhr: Sie war bereits fünf Minuten zu spät. Das war für ein erstes Treffen immer schlecht. Dann, endlich, kam eine junge Frau hinter den Tresen und wandte sich ihr zu. Sie besaß den unterkühlten Charme deutscher Nachrichtensprecherinnen. »Die Firma Desag hat eine Nachricht für mich hinterlassen«, erklärte Josefa. DieDame vom Empfang hob fragend die Augenbrauen. »Welche Firma,
bitte?«
»Desag. D-E-S-A-G«, wiederholte Josefa. Das Treffen fand zum ersten Mal in diesem Hotel statt, weil das Baur-au- Lac wegen Bauarbeiten geschlossen war.
»Desag? Und eine Nachricht für wen, bitte?«
Josefa wurde nervös. War das Personal nicht informiert? Oder waren ihre Gesprächspartner vielleicht im falschen Hotel?
Nun legte der Concierge den Hörer auf. »Desag«, sagte er. »Ja, da haben wir eine Nachricht. Sie werden ins Zimmer 398 gebeten.«
Josefa zögerte. »Zimmer 398? Ist das ein Hotelzimmer?«
Die Treffen fanden grundsätzlich nicht in Hotelzimmern statt. Josefa blickte den Mann peinlich berührt an. Ihr fielen plötzlich Geschichten von Edelprostituierten ein, die betuchte Kunden in Grand-Hotels aufsuchten. Für einen kurzen Moment überlegte sie, wen er wohl vor sich sah: eine schlanke Frau, Mitte dreißig, in einem hellblauen Mohair- Mantel, mit farblich passendem Seidenschal von Fabric Frontline und einer Aktentasche unterm Arm. Ihre grau melierten Locken (sie hatte schon im zarten Alter von zwanzig Jahren graue Strähnen, ein Erbe ihrer Mutter) hatte sie hochgesteckt. Außer einem blassen Lippenstift und einem hauchdünnen Lidstrich war sie nicht geschminkt. (Zum Glück hatte sie von ihrer italienischen Mutter auch die dunklen Augen und die dichten Wimpern geerbt.) Ihre fein getönte Gesichtshaut brauchte kein Make-up.
Josefa sog die Luft ein. »Nach meinen Informationen wurde ein kleines Konferenzzimmer reserviert«, sagte sie mit fester Stimme. Der Concierge nickte entschuldigend. »Leider sind unsere Konferenzräume alle belegt. Aber das Zimmer 398 ist eine große Suite. Und sie verfügt über die gesamte notwendige Infrastruktur, um als Büro genutzt zu werden, das kann ich Ihnen versichern.« Er nahm ein mehrseitiges Dokument und heftete es mit Schwung ab. In Josefas Ohren knallte es. Sie zuckte zusammen. Es war eine Waffe, die ihre Schläfe gerammt hatte! Ein Revolver oder eine Pistole. Das musste es sein. Ihre Knie wurden weich. Wurde sie erneut verfolgt?
»Wünschen Sie noch etwas?«, fragte der Concierge.
»Zum Aufzug, bitte«, sagte Josefa.
»Gleich da drüben links.«
Josefa wartete nervös vor dem Anzug. Neben ihr stand eine Gruppe Touristen, die in den Tüten der teuren Designerläden zwischen Paradeplatz und Storchenplatz ihre Ausbeute heimtrugen. Josefa, reiß dich zusammen. Es ist alles in Ordnung. Wie schreckhaft sie doch war. Die vergangenen Ereignisse hatten ihre Nerven angegriffen. Wahrscheinlich lag es an dem Plakat. Mit dem Aufruf zur militärischen Schießübung. Das musste ihre Phantasie beflügelt haben. Es gibt noch eine normale Welt, versuchte sie sich zu beruhigen. Dieses Hotel etwa, oder die Touristen, die nun mit ihr im Aufzug noch oben glitten.
Der Flur auf der dritten Etage war leer. Neben Zimmer 398 leuchtete ein Schalter mit der Aufforderung »Bitte drücken«. Doch Josefa klopfte an, mehrfach und kräftig. Sie wartete. Eine Leuchtschrift erschien: »Bitte eintreten.« Sie drückte auf die Klinke. Das Vorzimmer lag im Dunkeln, doch in der angrenzenden Suite brannte Licht. Die Vorhänge waren zugezogen, das konnte sie von weitem erkennen. Hätte sie etwas warnen sollen? Hätte sie vorsichtiger sein sollen nach den vergangenen Monaten? Unschlüssig schob sie die Aktentasche von einer Hand in die andere, da erschien im Türrahmen eine Gestalt.
Josefa erstarrte. »Sie?«, stieß sie hervor. Das war nicht die Person, die sie erwartet hatte. Diesem Mann, der nun die Hand leicht hob, hätte sie nicht begegnen wollen. Nicht jetzt und nicht unvorbereitet.
»Ich hatte schon lange den Wunsch, mich mit Ihnen zu unterhalten«, hörte sie ihn mit schwerer, heiserer Stimme sagen. In diesem Augenblick ließ ein Geräusch sie herumfahren. Ein Mann hatte die Außentür aufgestoßen. Er trug einen Lammfellmantel über einem schwarzen Anzug. Und unter dem Anzug einen eckigen Gegenstand aus Metall.