Aus mit dem kanadischen Traum

Erschienen im Tages-Anzeiger am 1. Juli 2008

Photo: Fabian Fabian

Kanada ist nicht mehr ein Paradies für Auswanderer.

Brigitta Stähli hätte nicht gedacht, dass sie schon wieder so wenig Geld verdienen würde. Für einen Stundenlohn von umgerechnet 10 Franken braut sie Tee in einem Tea Shop in Toronto. Es ist ein Teilzeitjob ohne Aussicht, und das nicht nur im bildlichen Sinn: Das fensterlose “Teaopia” befindet sich in einer unterirdischen Fussgängerpassage im Finanzviertel von Kanadas grösster Stadt.

Noch vor vier Jahren besaß die 44-jährige Schweiz-Kanadierin ihr eigenes Tearoom im Dorf Sechelt in der Provinz British Columbia. Die Gegend nennt sich Sunshine Coast (Sonnenscheinküste), ein malerisches Stück Festland am Pazifischen Ozean, das in zwei Stunden von Vancouver aus zu erreichen ist. Dorthin war sie mit ihrem Mann Fabian im September 2001 mit grossen Hoffnungen ausgewandert. Die Inneneinrichtung des Tearooms hatten die beiden selber entworfen: eine bambusverkleidete Theke, edle Steinplatten am Boden, ein Cheminee an der Wand. Die Zukunft stand ihnen offen. Aber bald ging es mit dem kanadischen Traum bergab.

“Ich sah schnell, dass es finanziell nicht gut lief”, erzählt Brigitta. “Unsere berufliche Situation war eigentlich immer kritisch.” So kritisch, dass die beiden nun nach fast sieben Jahren Kanada verlassen und in die Schweiz zurückkehren. “Für viele Leute gibt es etwas Tolles in Kanada zu erreichen, aber ich konnte meine Träume nicht verwirklichen”, sagt Brigittas Ehemann, ein 39-jähriger Computerspezialist und aspirierender Schauspieler, der sich Fabian Fabian nennt.

Die beiden sind bei weitem nicht die einzigen Auswanderer, die nach mehreren Jahren wieder in ihre alte Heimat zurückkehren. Nur spricht man darüber nicht. Während die Auswanderung meist mit Fanfaren angekündigt wird, verläuft die Rückkehr still und unbeachtet. Von Auswanderern wird erwartet, dass sie in dem neuen Land erfolgreich sind und das in die Tat umsetzen, wovon viele träumen. Die Realität sieht aber oft ganz anders aus (siehe Kasten).

Aber davon wussten Brigitta und Fabian nichts, als sie den Entschluss fassten, in Kanada zu leben. Auswandern wollte Fabian, sportlich und gutaussehend, schon immer. “Mir war es in der Schweiz zu eng”, sagt er. Brigitta, stets voller Tatendrang und Begeisterung, war sofort dabei. Sie verkauften ihre Firma für Werbefilm-Produktion in Zürich und schickten einen Container mit Möbeln auf die Reise.

Aber schon die Ankunft in Kanada war anders als erwartet. Die Terroristenangriffe vom 11. September warfen lange Schatten über die Sonnenscheinküste. “Es herrschte eine depressive Stimmung”, erinnert sich Brigitta. Und Sonne gab es auch keine, dafür viel Regen, im Winter ein Dauergast an Kanadas Westküste. Aber die beiden Neuankömmlinge erhielten gleich einen Auftrag für einen Werbefilm von ihrem Vermieter.

Beim ersten Mal lief die Sache gut, beim zweiten Mal wollte der Mann nicht bezahlen. Nur dank des Einsatzes eines kanadischen Bekannten erhielten sie doch noch ihr Geld. Das war die erste Lektion: In Kanada laufen die Dinge anders als in der Schweiz. Die zweite Lektion: Die Suche nach einer Arbeitsstelle ist schwierig und der Stundenlohn erbärmlich. “Hier läuft alles über Beziehungen”, sagt Brigitta, “aber wir kannten keinen Menschen.” Fabian fand schliesslich einen Job für zehn Franken pro Stunde in einem Computerladen. Brigitta eröffnete ihr Tearoom, mit dem Hintergedanken, “auf diese Weise Leute kennenzulernen.”

August 2002 Die Sonne scheint über den Stränden von Sechelt. Im Dorf findet gerade das alljährliche Dichter- Festival statt, das berühmte Namen aus ganz Kanada anzieht. Im “Tea House” sind alle Tische besetzt, auch die im Garten. Brigitta kommt mit Bedienen fast nicht nach. Wie immer ist sie gut aufgelegt, scherzt mit den Gästen, empfiehlt ihren selbstgebackenen Schweizer Kuchen. Aber sie weiss schon jetzt, dass dieses Wochenende die grosse Ausnahme in ihrem Geschäft ist. An manchen Tagen kommen nur drei Kunden vorbei, bekennt sie.

Fabian steht an der Kasse. Sonst arbeitet er in Vancouver als “Computer Playback Artist”, nachdem er sich zum Produktionsassistenten ausbilden liess. Er verdient rund 7000 Franken im Monat, arbeitet sechzehn Stunden am Tag, aber er sei zufrieden, sagt er den Besuchern.

Diese finanziell lohnende Phase währt allerdings nicht lange.

Juli 2004 Fabian hat seinen Job während einer Umbauphase der Produktionsgesellschaft verloren. Die Filmindustrie in Vancouver erlebt eine Krise. Boom and Bust, Aufschwung und Niedergang, sind bekannte Phänomene in Kanadas Wirtschaft. “Ich hatte das Gefühl, ich sei nun dabei und – schwupp – bin ich niemand mehr”, klagt Fabian.

Auch mit dem Tearoom verlieren sie Geld. Nach zweieinhalb Jahren verkaufen sie das Geschäft. “Mein Tea House war zu gediegen”, sagt Brigitta. “Die Kanadier wollen einfach grosse und billige Portionen.” Im Sommer 2004 ziehen sie nach Vancouver. Fabian hält sich mit kleinen Jobs über Wasser. Aber Brigitta gefällt das Leben in der Stadt nicht. Nach einem halben Jahr trifft man die beiden wieder an der Sunshine Coast.

Frühling 2005 Brigitta und Fabian arbeiten im Garten ihres Häuschens, das sie für rund 140000 Franken mit finanzieller Hilfe von Freunden und Familie gekauft haben. Es ist winzig, aber Brigitta wollte sich unbedingt den Traum der eigenen vier Wände erfüllen. Fabian legt mit Freunden das Fundament für eine Doppelgarage, die er in ein Aikido-Trainingszentrum umwandeln will. Seit 20 Jahren beschäftigt er sich intensiv mit Kampfsportarten. Zudem nimmt er Schauspieltraining und hat in Vancouver einen Agenten gefunden. Brigitta bedient in einem Cafe für 10 Franken die Stunde. Vor kurzem hat sie vier Monate in der Schweiz verbracht, um mehr Geld zu verdienen, aber die Erfahrung war ernüchternd. Die beiden kennen nun viele Leute in Sechelt und besitzen den kanadischen Pass. Die Sunshine Coast ist ihr Zuhause. Denken sie.

Dezember 2007 Es regnet unaufhörlich. Noch so ein grauer, nasser, deprimierender Winter. Brigitta und Fabian sitzen an ihrem winzigen Tisch in der Küche. Fabian hat bislang keinen Job als Schauspieler gefunden. Er hat auch die Garage nicht fertiggestellt. Das Geld ist wieder knapp geworden. Brigitta ist jetzt in einem Import-Büro für rund 15 Franken die Stunde beschäftigt. Fabian arbeitet zwei Tage pro Woche als Graphiker für einen Gratisanzeiger. Die beiden langweilen sich. Sie wollen das Häuschen verkaufen und in Toronto einen Neuanfang wagen.

Juni 2008 Die Entscheidung ist gefallen: Brigitta und Fabian kehren in die Schweiz zurück. Zwar war der Anfang in Toronto vielversprechend gewesen. Fabian hatte Statistenrollen erhalten und Filmstars wie Liv Taylor und Jude Law getroffen. Aber die beiden sind auf keinen grünen Zweig gekommen. Keine Engagements für Fabian, kein Fortschritt. Der Gewinn vom Hausverkauf ist praktisch aufgezehrt. Selbst Small Talk ist nicht einfach. “Meine Bekannten haben andere Schulen besucht, eine andere Kindheit erlebt, andere Fernsehserien geschaut”, sagt Brigitta. “Uns fehlen Gemeinsamkeiten im Gespräch.”

Das wiegt alles Positive nicht auf. Brigitta gefällt der multikulturelle Einfluss in Toronto. Das Paar befasst sich auch mit spirituellen Zeremonien der Indianer, Fabian übt fleissig auf einer geheiligten Trommel. Aber trotz ihrer guten Ausbildung können sie sich nicht in Kanada integrieren.

Oskar Studer aus Hinterforst (SG) kann das gut nachvollziehen. Der 54jährige wanderte 1995 nach Kanada aus, wo seine drei Brüder immer noch leben, und liess sich vier Jahre später wieder in der Schweiz nieder. Der gelernte Bankkaufmann versuchte sich mit allen möglichen Tätigkeiten in Kanada eine Existenz aufzubauen. Als Teilhaber einer eigenen Firma stellte er Häuser für Minenarbeiter in der Nähe von Williams Lake (Provinz British Columbia) auf. Aber dann schlossen die Minen, und mit dem Bauen war es vorbei. Seine Arbeitssuche blieb erfolglos. Man wollte ihn weder als Autovermieter noch als Handlanger in einem Sägewerk und auch nicht zum Auffüllen der Regale im Supermarkt. “Ich war wohl überqualifiert, oder man verstand meine Bewerbungsunterlagen mit dem Schweizer Lebenslauf nicht”, sagt Studer. Seine Frau Silvia, eine Krankenschwester, hätte in Kanada eine zusätzliche Ausbildung machen und dann zuerst als schlecht bezahlte Krankenhilfe arbeiten müssen. Da blieb sie lieber auf der Farm mit ihren geliebten Pferden.

Schliesslich sagte sich Oskar Studer: “Zäune aufstellen für zehn Dollar die Stunde, das war nicht unsere Idee vom kanadischen Traum.” Sie verkauften die 53 Hektar Land und flogen in die Schweiz zurück, wo Studer schnell wieder eine Stelle fand und später zum Finanz- und Personalchef aufstieg. Die kanadische Wildnis, die Weite und das Eisfischen vermisst er aber manchmal, und er schliesst nicht aus, einst seinen Lebensabend in Kanada zu verbringen.

Ganz anders Ruth Brücker , die im Jahr 2001 – mit 65 Jahren – nach Kanada auswanderte, aber im vergangenen Jahr beschloss, in Basel alt zu werden. Kanada war für die alleinstehende Grossmutter kein unbekanntes Land: Sie hatte als junge Frau mehrere Jahre mit Mann und Kindern dort gelebt. Aber bei ihrer Einreise vor sieben Jahren sollte es für immer sein. Ihre beiden Söhne leben in Vancouver und Sechelt, und Ruth Brücker suchte deren Nähe.

Sie kaufte ein Haus an der Sunshine Coast und packte mit Begeisterung die Renovation an. “Anfänglich fühlte ich mich wohl, vor allem die Nachbarn waren unheimlich nett”, sagt sie. Aber dann musste sie feststellen, dass die Söhne ihr eigenes Leben hatten. Den Ausschlag für ihre Rückkehr gaben allerdings Probleme mit den Augen. Sie konnte nachts nicht mehr Auto fahren. In einem Land, in dem die Distanzen riesig sind und man überall hin fährt, bedeutete das ein riesiger Verlust. Ruth Brücker fühlte sich zunehmend isoliert.

Ihre Rückkehr im vergangenen Jahr hat sie nie bereut. In Basel braucht sie wegen der guten öffentlichen Verkehrsmittel kein Auto. “Ich kann in der Schweiz länger selbständig sein”, sagt die 72-jährige. Manche Schweizer findet sie zwar “engstirnig und sehr auf sich bezogen”, die Menschen in Kanada seien viel offener und unkompliziert. Das vermisst sie – und den Pazifik auch.

Brigitta Stähli weiss noch nicht, ob sie sich auf das Leben in der Schweiz freut, wo ihre Familie, Freunde und eine Mietwohnung in Aarau auf sie warten. “Zuerst machte mir der Gedanke an die Rückkehr ein bisschen Angst”, sagt sie, “aber jetzt finde ich ihn spannend. Man kann sich wieder neu definieren.” Die kanadischen Pässe sind beiden wichtig, ergänzt Fabian: “Wir möchten die Verbindung zu Kanada nicht verlieren.”

Für Schweizer steht Kanada in der Skala der beliebtesten Auswanderungsländer an fünfter Stelle. Im Jahr 2006 sind 445 Schweizer nach Kanada emigriert. Insgesamt leben rund 36000 Schweizer dort (Stand 2006). Wieviele Auswanderer wieder zurückkehren, wird von keiner Statistik erfasst. Laut Roland Flükiger vom Bundesamt für Migration gibt es gesamthaft jedes Jahr im Durchschnitt 30000 Ausreisen und ebensoviele Rückwanderungen. Aber in diesen Zahlen sind auch befristete Auslandaufenthalte, etwa für Sprachkurse und Weltreisen, enthalten.
Der wichtigste Grund für eine Rückreise sei, dass man die Kinder in Schweizer Schulen schicken wolle, sagt Flükiger. Oft scheiterten die Auswanderer finanziell, und bei Rentner führten meist gesundheitliche Probleme zu einer Rückkehr in die Schweiz. Die kanadische Regierung wirbt im Ausland um gut ausgebildete Einwanderer, die angeblich kein Problem haben, in Kanada schnell Arbeit zu finden. Die Realität sieht aber häufig ganz anders aus. Kanadische Arbeitgeber verlangen fast immer Arbeitserfahrung in Kanada, ein Teufelskreis für neue Immigranten. In vielen Fällen werden Schweizer Diplome und Abschlüsse nicht anerkannt; Spezialisten müssen ihre teure Ausbildung unter teils schwierigen Bedingungen in Kanada noch einmal absolvieren, was im Regelfall mehrere Jahre dauert. Selbst wenn Krankenschwestern, Ärzte, Lehrer, Ingenieure oder Architekten diese langwierige Prozedur auf sich nehmen, müssen sie anschließend in der Hierarchie meist ganz unten anfangen. Von Elektrikern wird zum Beispiel verlangt, dass sie nochmals eine Prüfung auf Englisch ablegen. In jeder der zehn Provinzen und drei Territorien des Landes gelten überdies andere Zulassungsbedingungen. Kritiker sagen, dass Berufsverbände und Gewerkschaften auf diese Weise unliebsame ausländische Konkurrenz fernhalten, mit der Begründung, dass es ihnen nur um den Schutz der Ausbildungsstandards gehe. So arbeiten eingewanderte Fachkräfte häufig als Pizza-Austräger oder Taxifahrer. Kanada müsse es vermeiden, Einwanderern “irreführende Hoffnungen auf eine leichte Integration und auf Stellen mit hohen Einkommen zu machen”, schrieb die kanadische Zeitung “The Vancouver Sun”. Der Schweizer Einwanderungsberater Ruedi Bührer sagt, dass jeder fünfte Kanada-Auswanderer, von dem er erfahre, in einem Zeitraum von zehn Jahren wieder zurückkehre. “Zwei Drittel sind Träumer, die ganz falsche Vorstellungen haben”, sagt er, “die wollen vom Büro in die Wildnis.”