Auf Pilzjagd

Erschienen im November 2003 in “natur + kosmos”

Es ist sechs Uhr morgens. Noch liegt die Nacht pechschwarz über das Nass Valley, verhüllt die mächtigen Gipfel und die Seen. Ein alter Lastwagen rumpelt klappernd über die Schotterstrasse, ungeachtet der Schlaglöcher. Seine Scheinwerfer erfassen schwach die Ränder der riesigen Wälder, die sich auf beiden Seiten der Forststrasse ausdehnen. Dichte Nebelschwaden verkürzen die Sicht auf wenige Meter. Doch Doug Mighton, der Fahrer, drosselt sein Tempo nicht.

Der Kanadier will keine Zeit verlieren, denn er ist auf der Jagd nach dem “weißen Gold”. Jedermann im Gebirgstal des Flusses Nass weiß, was damit gemeint ist: ein elfenbeinfarbener, kostbarer Pilz. In den Herbstmonaten strömen Glücksritter, Abenteurer und Waldläufer aller Art in diese abgelegene Region im Nordwesten der kanadischen Provinz British Columbia. Die meisten sind bei der Kleinstadt Terrace auf den Nisga´a Highway eingebogen. Ihr Ziel sind die alten Nadelwälder, die in ihrem Boden einen wertvollen Schatz bergen: den “Matsutake”, auch “Pine Mushroom” (zu Deutsch: Kiefernpilz) genannt. Dieser würzige Esspilz wird fast ausschließlich nach Japan exportiert, wo er als traditionelle Delikatesse für viel Geld gehandelt wird. Die Japaner lieben den Matsutake nicht nur wegen seines delikaten Geschmacks, sie sprechen ihm auch medizinische Wirkungen zu. In Kanada löst der Pilz eher eine Art Rausch aus, dem jedes Jahr Tausende von Sammlern erliegen. Sie folgen dem Lockruf von Geschichten, wonach Pflücker in wenigen Wochen ein Vermögen verdienten, nachdem sie ertragreiche Matsutake-Felder gefunden hatten.

Dieses Jagdfieber treibt Doug Mighton trotz seiner 76 Jahre immer noch in die Wildnis. Es ist stärker als die Angst vor Bären, Pumas und Kojoten. Es treibt ihn durch Dornengestrüpp, Schluchten und Sümpfe, lässt ihn Nässe und Kälte ertragen.

An diesem Morgen ist Doug nicht allein. Vor ihm bahnt sich Norm Kenyon mit seinem Transporter den Weg durch die Dunkelheit. Norm, ein erfahrener Sammler und Pilzhändler, will Doug ein Waldstück zeigen, das in früheren Jahren eine Goldgrube war.

Die beiden biegen in einen Waldpfad ein, der von einem Biberdamm überflutet ist. Sie lassen ihre Fahrzeuge in einer Lichtung stehen, packen Stock und Plastiktüten und laufen los. Noch fällt nur spärlich Licht durch die Baumkronen. Doug und Norm suchen den Waldboden aufmerksam ab. Der Matsutake ist nicht leicht zu entdecken. Er versteckt sich unter dem luftigen Teppich aus Federmoos, in Wurzelhöhlen, unter Decken aus Tannennadeln, Blättern oder morschen Stämmen auf dem Boden.

Plötzlich sieht Doug in all dem Grün und Braun etwas Weißes aufblitzen, den berühmten “white flash”, der unweigerlich bei jedem Sammler einen Adrenalinstoss auslöst. Auf den Knien schält Doug das Exemplar, von dem nur ein kleiner Streifen im Moos zu sehen war, vorsichtig aus seinem Erdbett. Dann hält er ihn stolz in die Höhe: “Was für eine Schönheit!”, ruft er aus. Der Pilzkopf ist fest und rund, die dünne Membrane zwischen Haube und Stamm intakt. Der Pilz hat keine Würmer und ist auch nicht von Eichhörnchen angefressen. Dougs Exemplar wiegt ein halbes Pfund und wird die höchste Bewertung des Händlers erhalten: “Number One”.

Soogleich tastet Doug mit seinen runzligen Händen die Umgebung ab, und tatsächlich – unter dem Moos verbergen sich noch drei weitere Matsutake. Nach einigen Stunden ausgedehnter Suche sind die beiden Männer allerdings enttäuscht: Die Ausbeute ist gering. Andere Pilzsucher waren vor ihnen da gewesen, wie dunkle Löcher im Moos und weggeworfene wurmstichige Pilze beweisen.

Am Nachmittag trifft Norm in Nass Camp ein, einer einsamen Siedlung mitten in der Wildnis. Zum ehemaligen Holzfäller-Lager gehören ein Restaurant mit schummriger Bar, eine Tankstelle und ein Gemischtwarenladen. Ab vier Uhr nachmittags rumpeln alte Lastwagen, Jeeps, schäbige Wohnbusse und rostige Autos durch die Pfützen und über die Bodenwellen des lehmigen Platzes. Ihr Ziel sind die Hütten der Pilzhändler, die im Spätsommer und Herbst als mobile Kaufstationen am Rande von Nass Camp stehen.

Rund ein Dutzend Matsutake-Käufer wartet hier auf die Sammler, die begierig sind, den heutigen Preis zu erfahren. Am Vorabend zahlten die Händler für ein Pfund “Pines” elf kanadische Dollar. Deprimierend wenig, finden die Pflücker. Sie schimpfen über dieses “Halsabschneider-Geschäft”. Zu Anfang der Pilzsaison hatte der Preis noch bei 55 Dollar pro Pfund gelegen (ein kanadisches Pfund beträgt 453 Gramm). Trotzdem schwärmen die “Shroomers” (Kurzform für “mushroomers”) aus und hoffen, dass sich die Marktlage bis zum Abend verändert. Die meisten haben schon erlebt, wie schnell sich ihr Glück zum Bessern wenden kann, und harren aus.

Norm Kenyon hat den alten Ofen in seinem Bretterverschlag geheizt. Einige müde Männer fläzen sich in abgewetzten Polstersesseln. Thermosflaschen mit heißem Kaffee stehen auf einem Brett an der Wand. In manchen Hütten verwöhnen die Händler ihre Kunden auch mit einem Marihuana-Joint, dessen süßer Duft sich mit dem kräftigen Tannengeruch der Pilze mischt. Viele dieser Sammler wollen ihren Namen oder ihre Lebensumstände nicht preisgeben. Schließlich bezahlt kaum ein Pflücker Steuern für das Bargeld, das hier direkt über den Tisch geht.

Das Forstministerium von British Columbia schätzt, dass in dieser Provinz jährlich 250 bis 400 Tonnen Matsutake geerntet werden. Das Geschäft mit wilden Pilzen beziffern die Behörden auf 25 bis 45 Millionen kanadische Dollar. Doch sie haben vorläufig ihre Absicht aufgegeben, das Pilzesammeln zu regulieren und zu kontrollieren. Der Markt ist einfach zu unübersichtlich.

Dieses Gefühl von Freiheit und unkontrollierter Existenz zieht viele Pflücker an. Auch Frauen. “Da kommt meine beste Sammlerin”, ruft Norm. Durch die Tür seiner Hütte tritt eine Frau in den Fünzigern, mit blondem, kurzgeschnittenem Haar und sanftem Gesicht. Ann Whaley legt mehrere schwere Plastiktüten auf den Ladentisch. Lachend wehrt sie Norms Kompliment ab. “Ich bin nur ein Baby im Geschäft”, sagt sie und lässt sich in einen Sessel fallen. “Ich mach das erst seit zwei Jahren.” Ann nimmt einen kräftigen Schluck Kaffee. Diese mädchenhafte, schlanke Frau geht mit ihrem Hund immer allein in den Busch. Sie trägt ein GPS, ein Global Positioning System, um den Hals. Dieses Gerät hilft ihr, zu ihrem Wohnmobil zurückzufinden. “Ich fühle mich wohl im Busch”, sagt sie. “Doch wenn plötzlich ein Grizzly auftaucht und ich bin zwei Stunden von meinem Wagen entfernt, ist es schon unheimlich.” Glücklicherweise hat sich der Bär nach bangen Minuten zurück gezogen. Andere Pflücker gehen lieber mit dem Gewehr in den Wald.

Ann Whaley ist heute nicht zufrieden. Sie war bei einer Stelle, wo sie im vergangenen Jahr viele Pilze gefunden hatte. Doch das Waldstück wurde inzwischen gerodet. “Es geht fünfzig Jahre, bis dort wieder Pilze wachsen”, klagt sie.

Was die Matsutake zum Gedeihen bringt, weiß man nicht genau. Sie wachsen in der Regel in Wäldern mit 50 bis 200jährigen Nadelbäumen, von deren Wurzelsystem sie sich in einem symbiotischen Austausch ernähren. Die Pilze bevorzugen durchlässige Erde. Viele Sammler halten vulkanischen Boden für besonders ertragreich, wie im Nass Valley, wo der Vulkan Wilksi Baxhl Mihl vor über 250 Jahren einen großen Teil des Tales unter Lavaströmen begrub. Niemand schaffte es bislang, die “Pine Mushrooms” unter künstlichen Bedingungen zu kultivieren.

Zu den glücklichen Sammlern zählt an diesem Abend ein junger Indianer, der schwer beladen in die Hütte stolpert. Gerald Clayton vom Stamm der Nisga`a-Indianer strahlt übers ganze Gesicht. Er hat in fünf Stunden 25 Pfund Pilze gepflückt. “Man muss halt jeden Baum persönlich kennen”, witzelt er und lässt sich 383 Dollar bar auszahlen. Er will gleich wieder zu seiner Fundstelle zurückgehen – mit einer Taschenlampe.

Als die Nacht hereinbricht, schließt Norm die Tür seines Verschlags und sortiert die Pilze in Plastikkörbe. Um neun Uhr abends kommt ein Lastwagen, um die Ausbeute des Tages nach Terrace zu bringen. Von dort geht es im Flugzeug nach Vancouver, wo sie von Pilz-Firmen nochmals sortiert, gereinigt und verpackt werden. Nach 72 Stunden liegt die Delikatesse schon in den Auktionshäusern in Tokio und Osaka.

Der Matsutake ist Teil der japanischen Kultur. Bis ins 18. Jahrhundert war der Verzehr dieses Pilzes nur Adligen erlaubt. Heute symbolisiert er für viele Japaner Fruchtbarkeit und Glück. Kanada ist Japans viertgrösster Matsutake-Lieferant, nach China, Südkorea und Nordkorea. In Kanada selber wird der Matsutake praktisch nur in asiatischen Restaurants und Läden angeboten.

Wohin die kostbaren Pilze verkauft werden, interessiert die Sammler im Weste Kanadas wenig. Für sie zählt nur der Preis – und der Hauch von Freiheit und Abenteuer, den ihre Suche nach den Pine Mushrooms umgibt. Das gilt auch für J acques und Ayca, die aus der Provinz Quebec kommen. Das junge Paar – beide sind 26 Jahre alt – sitzt mit Mütze und Schal in seinem kleinen Zelt. Aber die Freiheit der Pflücker geht ihnen über alles. “Wir gehen in den Busch, wann wir wollen und wir verkaufen die Pilze, an wen wir wollen”, sagt Jacques.

Der junge Mann kennt aber auch den Preis dieser Freiheit. Nicht alle Pflücker haben Glück. Manche finden so wenige Pilze, dass sie am Ende mit weniger Geld dastehen als bei ihre Anreise. Jacques kennt sogar Männer, die ihr Auto verkaufen mussten, um wieder nach Hause zu kommen. Doch wer vom Virus des Matsutake befallen ist, kommt so schnell nicht wieder los. “Weil sie an einem guten Tag 300 Dollar verdienen können, kommen viele Pflücker Jahr für Jahr zurück”, sagt Jacques, “nur wegen dieses einen guten Tages.”
Denn die Hoffnung aufs grosse Geld verlässt sie nie.