Wink mit dem Totempfahl

Erschienen am 20. September 2005 in der Süddeutschen Zeitung

Wie haben das die Haida-Indianer nur gemacht? In achtzehn Meter langen Kanus sind sie einst über die Hecate-Wasserstrasse gepaddelt, das gefährlichste Gewässer an der Nordwestküste Kanadas. Hier treffen unterschiedliche Windströmungen aufeinander. Die machen selbst modernen Seefahrern noch sehr zu schaffen. Die Autofähre, die in sechs Stunden von der kanadischen Hafenstadt Prince Rupert zu den Queen-Charlotte-Inseln fährt, torkelt schwer durch die hohen Wogen. Einige Passagiere werden seekrank.

Diese Ozeanstürme haben die unerschrockenen Haida-Indianer, die seit fast 10000 Jahren auf den Queen-Charlotte-Inseln leben, nicht abgeschreckt. Als stolze Krieger terrorisierten sie während Jahrhunderten andere Indianerstämme von Alaska bis nach Vancouver Island hinunter. Die Überlebenden verschleppten sie als Sklaven für die wohlhabende und aristokratische Haida-Elite.

Die Heimat der Haida, ein Archipel mit rund 150 Eilanden, heißt Haida Gwaii oder “Inseln der Menschen”. Es sind die isoliertesten Inseln Kanadas. Sie sind von einer wilden Schönheit, mit langen Sandstränden und schroffen Küsten, aber auch hohen Bergen und Wiesen wie in den Alpen. Am Horizont taucht Graham auf, die größte Insel der “Charlottes”, auf der die meisten der rund 6000 Menschen auf Haida Gwaii leben. Die Fähre legt in der Nähe der Hauptstadt Queen Charlotte City an, einst eine Holzfällersiedlung, heute ein kleiner Hafen mit ein paar bunten Holzhäusern, Restaurants, Pensionen und Läden. Große Hotels gibt es hier nirgendwo.

Die Spuren der Haida führen allerdings in die andere Richtung, an der Küste entlang nach Skidegate, wo riesige Totempfähle wie in alten Zeiten aufs Meer hinausblicken, das hier seltsam urtümlich wirkt. Queen-Charlotte-Inseln heißt der Archipel erst, seit der britische Captain George Dixon 1787 mit seinem Schiff “Queen Charlotte” hier anlegte. Zehn Jahre zuvor hatten die ersten Weißen die Inseln “entdeckt”. Die Haida waren ihnen als Seefahrer ebenbürtig. Sie paddelten seit Menschengedenken in ihren aus einer einzigen Zeder gehauenen Kanus über den Ozean. Den Weißen verkauften sie die Felle der Meerotter, bis die Tiere fast ausgerottet waren.

Weil die Sklaven die Arbeit machten und der Ozean reichlich Nahrung bescherte, konnten sich die Haida der Kunst widmen. Ihre Werke aus Holz, Silber, Gold und Kupfer sind legendär. Das Museum im Indianerdorf Skidegate (Tel. 001 250-559 46 43) ist gefüllt mit Zeugnissen ihrer eindrücklichen Fertigkeit: Totempfähle aus alten Haida-Dörfern, daneben Schalen und Figuren aus Argillite (einem glänzenden weichen Schieferstein, der nur in den nahen Slatechuck-Bergen gefunden wird und ausschließlich den Haida-Künstlern vorbehalten ist), Körbe, aus Zedernrinde und Wurzeln geflochten, Kleider aus Rinde und Bergziegenwolle.

Um ein Haar wäre diese erstaunliche Kultur im 19. Jahrhundert mit der von tödlichen Pocken dezimierten Haida-Bevölkerung ausgestorben. Aber seit drei Generationen blüht die Kunst der rund 2000 Haida wieder und die Traditionen sind erstaunlich lebendig. Touristen können daran auf ziemlich unorganisierte Weise teilhaben. In Old Masset, dem zweiten Haida-Dorf auf Graham, sind Besucher eingeladen, die einheimischen Künstler spontan bei der Arbeit zu besuchen. “Wir sind sehr großzügige Menschen”, sagt John Disney vom Haida-Rat in Old Masset. “Bei schönem Wetter lohnt es sich herumzuspazieren und einfach reinzuschauen.” Der Rat gibt eine Liste der Künstler heraus (Tel. 001 250-626 3337).

Von traditionellen Haida-Anlässen erfahren Reisende oft nur zufällig, aber dann ist es eine unvergessliche Erfahrung. So wie die Errichtung des Totempfahles vor dem Haus des “Chiefs” (Häuptling) Jim Hart an der Meerenge in Old Masset. Der bekannte Künstler Hart schnitzte den Totempfahl mit anderen Haida-Männern in drei Tagen aus einer elf Meter langen Zeder. Das Monument kündet die Geschichte der Vorfahren, es ist eine mythologische Genealogie. Sie erscheint nach Haida-Tradition in Tiergestalt, etwa im Raben, Adler, Bären oder Wal.

Die Ältesten des Stammes, denen größter Respekt entgegengebracht wird, wohnten der Zeremonie in ihren rot-schwarzen oder blauen, mit weißen Perlmuttknöpfen bestickten Gewändern bei. Unter Gesängen und Beschwörungen wurde der Totempfahl eingeweiht. Der Haida-Präsident Guujaaw sang alte Lieder und schlug die Trommel. Während der Totempfahl aufgerichtet wurde – mit Hilfe mehrerer Seile und rund hundert Menschen, die daran zogen – tauchte plötzlich ein schwarz-weisser Orca-Wal in der Meerenge von Old Masset auf. Die versammelten Frauen, Männer und Kinder begrüssten ihn jubelnd – ein magischer Moment.

Die zeitgenössische Kunst der Haida, vom Schmuck bis zu den Skulpturen, findet auf dem internationalen Markt immer mehr Käufer. Jim Hart ist ein Schüler des 1998 verstorbenen Haida-Künstlers Bill Reid. Im Flughafen von Vancouver steht Reids berühmte Holzskulptur “Der Rabe und die ersten Menschen”, die die Schöpfungsgeschichte der Haida zeigt.

Auf Haida Gwaii kann man zur Stätte wandern, wo nach der Haida-Mythologie die ersten Menschen erschaffen wurden.

An diesem Ort gibt es weder Totempfähle noch Häuser, weder Schilder noch Altare. Naikoon heißt “lange Nase” und sieht genauso aus: eine pfeilförmige Landspitze ins Meer hinaus.

In Naikoon, heute ein Naturschutzpark,

sind nach der Haida-Legende die ersten Menschen aus einer Muschel gekrabbelt, die ein Rabe mit spitzem Schnabel öffnete. Die Menschen waren zuerst ängstlich und vorsichtig und wollten lieber wieder in die Muschel zurück. Aber als der Rabe ihnen die überwältigende Schönheit der Welt beschrieb, überwanden die ersten Haida ihre Furcht und begannen die Inseln zu bevölkern.

Das kann man verstehen, wenn man einmal dort ist. Naikoon erreicht man von Old Masset aus, zunächst mit dem Auto auf einer holprigen lehmigen Straße durch den Regenwald, in dem tausendjährige Nadelbäume wachsen. Die Straße endet nach etwa einer Stunde, und von da an geht es zu Fuss dem 13 Kilometer langen, unberührten North Beach entlang, einem weißglitzernden Sandstrand. Treibgut türmt sich auf, von der Sonne gebleichte, silbern schimmernde Baumstämme in bizarren Formen. Ein altes Schiffswrack liegt neben angeschwemmten Bergen von Muscheln und glänzendem Seetang.

Am Ende der Landzunge breitet sich eine riesige Wiese mit Dünengras aus, ein Nistplatz für Adler, Sandhill-Kraniche und andere Vögel. An schönen Tagen kann man von der Nasenspitze, die auf englisch Rose Spit heißt, bis nach Alaska schauen. Wenn Naikoon das Betlehem der Haida ist, dann ist Ninstint der Pantheon. Dieses vor vielen Generationen verlassene Haida-Dorf wurde 1981 zum Weltkulturerbe der Unesco erklärt. Ninstint (in der Haida-Sprache Skuung Gwaii) auf der Insel Anthony ist nicht leicht zu erreichen, und die Zahl der Touristen, die diesen Ort besuchen können, ist beschränkt. Haida-Führer bewachen die Stätte. Ninstint war früher, bevor die von Weißen übertragenen Pocken 90 Prozent der Ureinwohner von Haida Gwaii ausrotteten, ein imposantes Dorf mit riesigen Plankenhäusern aus Zederstämmen. In jedem Haus lebten bis zu 40 Menschen. Dutzende von Totempfählen, die teilweise auch als Grabkammern dienten, säumten die Bucht. Die Stätte strahlt immer noch einen eigentümlichen Zauber aus. Man kann sich plötzlich vorstellen, wie die Haida in dieser Bucht in die Kanus stiegen, um an fernen Küsten mit Meerotterpelzen zu handeln oder andere Stämme zu besiegen. Kurz nach 1884 wurde das Dorf verlassen, die Reste der Häuser sind heute von Moos überwachsen. Die Monumente ragen nur noch als Trümmer aus dem Dickicht, sie vermoderten im warm-feuchten Klima oder wurden von fremden Eindringlingen zerstört.

Skrupellose Forscher und Völkerkundler verschleppten im vergangenen Jahrhundert viele alte Totempfähle – neben zahllosen anderen Artifakten und Knochen von Haida-Vorfahren – in ausländische Museen. Heute kämpfen die Haida um die Rückgabe dieser Kulturschätze, zunehmend mit Erfolg. Ninstint liegt an der Südspitze des Archipels, in einem 147000 Hektar großen Schutzgebiet namens Gwaii Haanas (Verwaltung 001 250-5598818), in dem sich – vor allem an der Ostküste – weitere verlassene und zerfallene Haida-Dörfer befinden. Mit Charterschiffen oder Wasserflugzeugen kommt man zu diesen sagenumwobenen Stätten hin – oder ganz einfach im Kajak, wobei die See um Gwaai Haanas sehr stürmisch sein kann.

Früher legten in Ninstint auch Boote mit Passagieren von Kreuzfahrtschiffen an. Doch dieser Art Tourismus haben die Haida und die Provinzbehörden einen Riegel geschoben, um das verletzliche Erbe zu schützen. Heute dürfen sich nur maximal 12 Personen gleichzeitig in einem der verlassenen Dörfer aufhalten.

Die Ureinwohner sind entschlossen, die Entscheidungen über die Zukunft ihrer Inseln heute selber zu treffen. Seit Jahren protestieren Präsident Guujaaw und mit ihm viele Haida gegen die Vereinnahmung ihrer Heimat und deren Reichtümer, gegen die Forstwirtschaftskonzerne etwa, die die Regenwälder auf Haida Gwaii kahlschlagen. Oder gegen die Pläne der Provinzregierung, die gewaltigen Erdöl- und Naturgasvorkommen im Meeresboden um den Archipel auszubeuten. Vor dem Obersten Gerichtshof der kanadischen Provinz British Columbia haben die Haida Anspruch auf das Eigentum an ihren Inseln und dem Ozean in Küstennähe erhoben. Der Fall ist noch anhängig.

David Crosby vom Stammesrat in Skidegate (Tel. 001 250-559 44 96) sagt, dass man mehr Touristen nach Haida Gwaai locken möchte, die sich für die Kultur der Haida interessierten. Zu diesem Zweck wird derzeit ein riesiges Kulturzentrum in Skidegate gebaut. Angst vor Massentourismus hat Crosby nicht: “Dazu sind die Inseln zu entlegen”, sagt er. Die Haida wollen aber aus vergangenen Erfahrungen lernen. Denn eine profitable Einkommensquelle ist ihnen bereits früher entgangen: das florierende Geschäft mit den Sportfischern, das außenstehende Unternehmer nun in Händen halten. Diesmal wollen die Einheimischen am Aufschwung teilhaben. Crosby glaubt nicht, dass ihre Kultur davon bedroht werden könnte. “Wir sind starke, intelligente und findige Menschen”, sagt er. Ein zweites Mal soll die Welt der Haida nicht um Haaresbreite untergehen.

Informationen:

Beste Reisezeit Juli/August/September. Das Klima ist mild. Es kann auch im Sommer reichlich regnen.

Anreise:

Flug nach Vancouver. Mit Air Canada oder Hawk Air nach Prince Rupert. Mit der Fähre von Prince Rupert nach Queen Charlotte City. Oder Direktflug Vancouver nach Sandspit.

Unterwegs:

Mit Mietwagen, da es keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt, nur Taxis und Charterbusse. Mit Charterschiffen und Kajak. Für den Besuch des Parkes von Gwaii Hanas muss man eine Gebühr bezahlen, die je nach Länge des Aufenthaltes variiert.

Touristenauskunft in Queen Charlotte City: Tel. 001 250 559 83 16 oder info@qcinfo.com

Photos: Bernadette Calonego