Frau Karetaks Sehnsucht nach Ruhe

Erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 19. Februar 2008

Photos: Karetak

Die kanadische Abgeordnete Nancy Karetak-Lindell kann nicht mehr. Sie ist vom vielen Reisen völlig ausgelaugt. Neben ihrem anstrengenden Flugprogramm sehen die Auslandsbesuche von Regierungschefs wie Schulausflüge aus. Frau Karetaks arktischer Wahlkreis Nunavut ist mehr als fünf Mal so groß wie Deutschland. Er umfasst drei Zeitzonen und 1,9 Millionen Quadratkilometer, das ist ein Fünftel der Landfläche Kanadas. Nur 26000 Menschen leben im Territorium Nunavut, der Heimat der Eskimos, und sie sind weit verstreut.

“Es gibt keine Verbindungsstraßen zwischen den Gemeinden”, sagt die Abgeordnete, “ich muss immer fliegen.”

Nancy Karetak ist Nunavuts erste und einzige Abgeordnete im nationalen Parlament in Ottawa. Als sie vor rund zehn Jahren gewählt wurde, hatte sie keine Ahnung, worauf sie sich da einließ. Nunavut, das 1999 ein selbständiges Territorium wurde, ist der größte geographische Wahlkreis auf dem amerikanischen Kontinent. Karetak brauchte drei Jahre, um jede ihrer 25 Gemeinden zu besuchen.

In dieser arktischen Gegend können bis zu fünfzig Minusgrade herrschen, und in den Wintermonaten verschwindet das Tageslicht ganz. Nancy Karetaks Terminkalender könnte den stärksten Menschen zu Fall bringen: Während der Woche arbeitet sie bis spät abends im Parlament und in Sitzungen. Dann reist die liberale Politikerin aus Arviat, deren Eltern noch im Iglu aufwuchsen, während zwei von drei Wochenenden in Nunavut herum. Der Hauptort Iqualuit ist drei Flugstunden von Ottawa entfernt. Von dort geht es weiter mit Kleinflugzeugen – falls das Wetter mitspielt. Manchmal muss Frau Karetak wegen eines Schneesturms oder Nebels unverrichteter Dinge zurückkehren.

Nur jedes dritte Wochenende ruht sich die 50-jährige Politikerin aus. “Jetzt bin ich total erschöpft”, sagt sie.

Ihr Mann starb kurz nach ihrer Wahl an einem Herzinfarkt. Sie musste ihre vier Söhne allein aufziehen. In Ottawa schüchterten sie anfänglich all die Anwälte und Ärzte im Parlament ein, aber sie war die einzige Frau im Eishockey-Team der Abgeordneten. Als neuer Politikerin war es ihr zuerst darum gegangen, den Inuit – so heißen die Eskimos in Kanada – ihre Tätigkeit in Ottawa zu erklären. In einem Territorium, in dem viele Leute weder Bankkonto noch Pass besitzen, war das nicht einfach. Die Inuit sind zum Glück freundliche Wähler. “Sie beschweren sich nicht so schnell”, sagt Karetak.

Aber als es um die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Kanada ging, spürte sie den Widerstand der Inuit, in deren Leben die Religion eine große Rolle spielt. Nancy Karetak stimmte trotzdem für das neue Gesetz: “Ich habe Diskriminierung am eigenen Leib erlebt”, sagt sie, “ich wollte nicht andere Menschen diskriminieren.” Sie will ihren Wählern vor allem eines klarmachen: dass sie dieselben Rechte wie alle Kanadier besitzen. Vor wenigen Jahren hätten stets andere Leute über die Inuit entschieden. “Heute haben wir unsere eigenen Polizisten und Lehrer, Manager und Krankenschwestern. Niemand hatte geglaubt, dass wir diese Stellen selber besetzen könnten”, sagt sie. Ihre Eltern, ein Polizist und eine Pfarrerin, wuchsen noch ohne Geldwährung in Nunavut auf. Die Inuit tauschten damals Fuchspelze und Robbenfelle auf dem Handelsposten der Hudson`s Bay Company gegen Zucker oder Mehl.

Es war auch die Zeit, als Inuit-Familien durch staatliche Eingriffe auseinander gerissen wurden. Nancy Karetak wurde in eine staatliche Internatsschule gebracht. Sie sah ihre Familie nur während der zwei Sommermonate. Ihr Bruder starb vor dreißig Jahren an Krebs in einem Krankenhaus der Stadt Winnipeg, aber niemand benachrichtigte die Familie. Erst kürzlich fand Nancy Karetak sein Grab in der Fremde, 1600 Kilometer vom Heimatdorf entfernt. “Jede Familie hat solche schrecklichen Geschichten”, sagt die Politikerin. Aber sie ist beeindruckt, wieviel die Inuit überlebt haben, “was für hilfsbereite, großzügige, starke Menschen das sind.” Die nächste Wahl findet dennoch ohne Nancy Karetak-Lindell statt. Denn sie will nur noch eines: Ausruhen.