Hundert Jahre Sex

Erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 26. März 2008

Fotos: Quelle Underwater Harvesters Association

Die Geoduck-Muschel ist eines der seltsamsten Lebewesen, und sie kommt nur im nordwestlichen Pazifik vor. Wegen ihres runzligen langen Saug-Halses wird sie auch Elefantenrüssel-Muschel genannt. Noch vor einer Generation interessierte sich kaum jemand für sie, aber ihr Aschenputtel-Dasein gehört heute endgültig der Vergangenheit an: Seit asiatische Einwanderer in der kanadischen Provinz British Columbia diese Muschel entdeckt haben, ist sie eine begehrte und kostspielige Delikatesse in den Restaurants in Festland-China, Hongkong, Macao und Japan geworden. Das hat auch viel mit ihrem unverwechselbaren Aussehen und den Vorlieben asiatischer Männer zu tun.

Viele Asiaten sehen in der Geoduck-Muschel ein Potenzmittel, sagt Jack Lai, Besitzer der Firma Evergreen International in Vancouver, die Elefantenrüsselmuscheln nach Asien exportiert: “Geoducks sind sehr beliebt bei wohlhabenden Chinesen, die sich heute Luxusprodukte leisten können.” Begonnen hat der Trend aber mit Einwanderern aus Japan, die Ende der siebziger Jahre bemerkten, dass die kanadische Elefantenrüsselmuschel einer seltenen Muschel in ihrme Heimatland glich. Später begannen aus Hongkong stammende chinesische Köche die Muschel in ihren kanadischen Restaurants anzubieten. Als sie nach Hongkong zurückkehrten, nahmen sie diesen Geheimtipp mit. So begann der Siegeszug der Geoduck-Muschel in Asien.

“Chinesen glauben, dass sie sind, was sie essen”, zitierte die Zeitung “The Vancouver Sun” Claude Tchao, einen anderen Exporteur aus Vancouver: “Wie sieht eine Geoduck-Muschel aus” Speziell Männer waren ganz wild auf sie, und sie wollten sie lebend und roh.”

Tatsächlich, so bestätigt Jack Lai, werden die Geoduck-Muscheln nach ihrer Ernte in British Columbia so schnell nach Asien transportiert, dass sie dort lebend angeboten werden können.

Die Muschel besitzt einen süßen Geschmack, eine knackige Haut und wird meist in dünnen Scheiben den Gerichten beigemischt.

Die Geoduck-Muschel (lateinisch panopea abrupta ) gräbt sich zu ihrem Schutz in den meist sandigen Meeresgrund ein. Sie braucht den Rüssel, der in Asien soviel Aberglauben auslöst, um aus dem Wasser an der Oberfläche Nahrung, nämlich tierisches und pflanzliches Plankton, einzusaugen. “Sie erhält auch Sauerstoff durch den Rüssel und benützt ihn für Ausscheidungen”, sagt der kanadische Meeresbiologe Grant Dovey.

Die Elefantenrüsselmuschel ist überhaupt ein erstaunliches Lebewesen: Sie kann eines der höchsten Alter unter den Tieren erreichen. Michelle James, Direktorin der Underwater Harvesters Association in Vancouver, erzählt von einem 168 Jahre alten Expemplar, das man in British Columbia fand. Das Alter lässt sich wie bei einem Baum an den Jahresringen an der Schale ablesen.

Die durchschnittliche Muschel wird rund 1,1 Kilogramm schwer und 150 Millimeter lang. Der Name Geoduck kommt vom indianischen Wort “gwe-duk” (grabe tief) und wird “Guui-Dak” ausgesprochen. Man findet die Muschel nur in den salzhaltigen Gewässern vor Alaska bis hinunter zum Golf von Kalifornien. Bei der Ernte lockern spezialisierte Taucher den Meeresboden, in dem die Muscheln bis zu einem Meter tief stecken, mit einem Hochdruck-Wasserstrahl auf.

Es handelt sich laut Grant Dovey weltweit um die grösste Spezies unter den Muscheln, die sich vergraben. Sie ist auch die wertvollste für die Fischerei an Kanadas Westküste.

Der Export von Geoduck-Muscheln ist ein lukratives Geschäft: British Columbia verkauft 1700 Tonnen jährlich für fast 23 Millionen Euro. Mit den US-Staaten Washington und Alaska zusammen sind es 4000 Tonnen jährlich. In einem Laden in Vancouver bezahlt man 13 bis 20 Euro für ein Pfund. In Asien wird es viel teurer: “In einem Restaurant in Hongkong kann man leicht 100 kanadische Dollar (rund 66 Euro) für ein Gericht mit Geoducks bezahlen”, sagt Michelle James. Die Europäische Union, ergänzt sie, erlaube die Einfuhr von lebendigen Geoduck-Muscheln aus Gründen des Schutzes einheimischer Arten nicht .

Die Qualität der Muschel wird nach ihrem Aussehen gewertet: Je weißer und länger der Rüssel, umso wertvoller das Exemplar. Fast 100 Prozent der Muscheln werden lebend transportiert. Für den Transport brauchen sie kein Wasser, falls sie kühl und feucht verpackt werden, denn es handelt sich um Lebewesen, die in der Natur in Zonen mit Ebbe und Flut leben.

Vor allem im US-Staat Washington wird die Muschel auch in speziellen Anlagen gezüchtet. Die Behörden in British Columbia haben die Ernte im Ozean stark eingeschränkt, da sich die Geoduck-Muscheln nur langsam reproduzieren. Sie laichen vornehmlich im Juni und Juli, wenn das Wasser warm ist. Die Weibchen setzen 7 bis 10 Millionen Eier frei, die im Wasser verschiedene Entwicklungsstadien durchlaufen, bis sie sich schliesslich nach 40 bis 50 Tagen auf dem Meeresboden niederlassen. Dort vergräbt sich die Geoduck, um nicht von Krabben, Seesternen oder Wasservögeln gefressen zu werden. Vor allem die Jungtiere sind gefährdet, während die Erwachsenen tief genug im Untergrund stecken, um nicht entdeckt zu werden. “Auch Seeotter lieben Geoducks und können tiefe Gänge graben”, sagt Grant Dovey.

Voll ausgebildete Fortpflanzungsorgane wurden in sieben bis 107 Jahre alten Muscheln gefunden. Daraus kann man schliessen, dass sich einzelne Exemplare dieser Gattung während mehr als einem Jahrhundert vermehren können! Kein Wunder, dass manche Männer an ihre Wirkung als Aphrodisiakum glauben.